Gedichte und Gedanken

 

Spiel dein Spiel und wehr dich nicht,
Lass es still geschehen.
Lass vom Winde, der dich bricht,
Dich nach Hause wehen.

(Hermann Hesse)

 

Unsere Fähigkeit zur Vertrautheit gründet auf einem tiefen Respekt, einer Präsenz, die erlaubt, dass das, was wahr ist, sich zum Ausdruck bringen kann, dass es entdeckt werden kann. Die Vertrautheit kann sich in jedem Augenblick zeigen; Sie ist ein Akt der Hingabe, ein Geschenk, das nichts ausschliesst.

(Jack Kornfield)

 

Die Brise in der Morgendämmerung hat dir Geheimnisse zu sagen.
                                    Schlaf nicht wieder ein.
Du musst um das bitten, was du wirklich willst.
                                    Schlaf nicht wieder ein.
Menschen gehen über die Schwelle wo die beiden Welten sich berühren,
                                    gehen hin und her.
Die Tür ist rund und offen.
                                    Schlaf nicht wieder ein.

(Rumi)

 

Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht.
Dann geht er schweigend mit ihm aus der Nacht.
Aber die Worte, eh jeder beginnt,
diese wolkigen Worte sind:

Von deinen Sinnen hinausgesandt,
geh bis an deiner Sehnsucht Rand;
gib mir Gewand.
Hinter den Dingen wachse als Brand,
dass ihre Schatten, ausgespannt, immer mich ganz bedecken.
Lass dir alles geschehen: Schönheit und Schrecken.
Man muss nur gehen: Kein Gefühl ist das fernste.
Lass dich von mir nicht trennen.
Nah ist das Land, das sie das Leben nennen.
Du wirst es erkennen an seinem Ernste.

Gib mir die Hand.

(Rainer Maria Rilke)

 

Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr gross.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren, und auf den Fluren lass die Winde los.
Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
Gib ihnen noch zwei südlichere Tage, dränge sie zur Vollendung hin
und jage die letzte Süsse in den schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben, wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

(Rainer Maria Rilke)

 

Es ist unser Geist
und unser Geist allein,
der uns fesselt
oder befreit

(dilgo khyentse rinpoche)

 

Wie wir auch alles in der Nacht benannten, nicht unser Name macht die Dinge groß: es kommen Pfeile, stark und atemlos, aus Bogen, welche sich zu Spielen spannten.
Und so Pilger, welche unvermutet, da eines letzten Vorhangs Falten fielen, den Altar schaun, darauf der Becher Blutet, und nicht mehr rückwärts können aus dem Heile: so in die Kreise stürzen sich die Pfeile und stehen zitternd mitten in den Zielen.

(aus: Gebet der Mädchen zur Maria/ Rainer Maria Rilke)

 

Wir gehen immer verloren, wenn uns das Denken befällt,
und werden wiedergeboren,
wenn wir uns ahnend der Welt anvertrauen,
und treiben wie die Wolken im hellen Wind;
denn alle Grenzen die bleiben,
sind ferner als Himmel sind.

Und es will Vieles werden,
aber wir greifen es kaum.
Wie lang sind wir der Erden Ängstliche noch im Traum,
Fragwürdige noch wie lange,
da alles sich schon besinnt,
da das was einstens so bange schon klarer an uns vorüberrinnt ?

Dass uns ein Sanftes geschähe,
wenn uns der Himmel berührt,
wenn seine atmende Nähe
uns ganz zum Hiersein verführt.

Wo wohl wohnen wir,
wo ist uns Heimat ?
Auch im Drüben; und Hier,
irgend an einer Statt des Himmels, der Erde:
das ist Vorübergang,
nicht ohne Beschwerde,
und voller Abendklang.

Wirkliches Wohnen ist nur im Herzen derer die Lieben;
Da ist die goldene Spur heimatlich unvertrieben.

(Jean Gebser)

 

Achte auf das Heilmittel im Innern des Schmerzes,
weil die Rose aus dem Dorn kam
und der Rubin aus dem Stein.

(Rumi)

 

Unsere größte Stärke liegt in der Sanftmut
und Zärtlichkeit unseres Herzens.

(Rumi)

 

Am Strand

Eines Nachts hatte ich diesen Traum:
Ich ging mit Gott, meinem Herrn, am Strand entlang.
Vor meinen Augen zogen Bilder aus meinem Leben vorüber,
und auf jedem Bild entdeckte ich Fussspuren im Sand.

Manchmal sah ich die Abdrücke von zwei Fusspaaren im Sand,
dann wieder nur von einem Paar.
Das verwirrte mich, denn ich stellte fest,
dass immer dann, wenn ich unter Angst,
Sorge oder dem Gefühl des Versagens litt,
nur die Abdrücke von einem Fusspaar zu sehen waren.

Deshalb wandte ich mich an den Herrn:
„Du hast mir versprochen, Herr, Du würdest immer mit mir gehen,
wenn ich Dir nur folgen würde.
Ich habe aber festgestellt,
dass gerade in den Zeiten meiner schwierigsten Lebenslagen
nur ein Fusspaar im Sand zu sehen war.
Wenn ich Dich nun am dringendsten brauchte,
warum warst Du denn nicht für mich da?”

Da antwortete der Herr:
„Immer dann, wenn Du nur ein Fusspaar im Sand gesehen hast,
mein Kind, habe ich Dich getragen.”

(Margaret Fishback Powers)

 

Über die Traurigkeit

(.....) Ich will wieder eine Weile reden, obwohl ich fast nichts sagen kann, was hilfreich ist, kaum etwas Nützliches. Sie haben viele ungroße Traurigkeiten gehabt, die vorübergingen. Und Sie sagen, daß auch dieses Vorübergehen schwer und verstimmend für Sie war. Aber, bitte, überlegen Sie, ob diese großen Traurigkeiten nicht vielmehr mitten durch Sie durchgegangen sind? Ob nicht vieles in Ihnen sich verwandelt hat, ob Sie nicht irgendwo, an irgendeiner Stelle Ihres Wesens sich verändert haben, während Sie traurig waren? Gefährlich und schlecht sind nur jene Traurigkeiten, die man unter die Leute trägt, um sie zu übertönen; wie Krankheiten, die oberflächlich und töricht behandelt werden, treten sie nur zurück und brechen nach einer kleinen Pause um so furchtbarer aus; und sammeln sich an im Innern und sind Leben, sind ungelebtes, verschmähtes, verlorenes Leben, an dem man sterben kann.

Wäre es uns möglich, weiter zu sehen, als unser Wissen reicht, und noch ein wenig über die Vorwerke unseres Ahnens hinaus, vielleicht würden wir dann unsere Traurigkeiten mit größerem Vertrauen ertragen als unsere Freuden. Denn sie sind die Augenblicke, da etwas Neues in uns eingetreten ist, etwas Unbekanntes; unsere Gefühle verstummen in scheuer Befangenheit, alles in uns tritt zurück, es entsteht eine Stille, und das Neue, das niemand kennt, steht mitten darin und schweigt.
 Ich glaube, daß fast alle unsere Traurigkeiten Momente der Spannung sind, die wir als Lähmung empfinden, weil wir unsere befremdeten Gefühle nicht mehr leben hören. Weil wir mit dem Fremden, das bei uns eingetreten ist, allein sind, weil uns alles Vertraute und Gewohnte für einen Augenblick fortgenommen ist; weil wir mitten in einem Übergang stehen, wo wir nicht stehen bleiben können. Darum geht die Traurigkeit auch vorüber: das Neue in uns, das Hinzugekommene, ist in unser Herz eingetreten, ist in seine innerste Kammer gegangen und ist auch dort nicht mehr, - ist schon im Blut. Und wir erfahren nicht, was es war. Man könnte uns leicht glauben machen, es sei nichts geschehen, und doch haben wir uns verwandelt, wie ein Haus sich verwandelt, in welches ein Gast eingetreten ist.

Wir können nicht sagen, wer gekommen ist, wir werden es vielleicht nie wissen, aber es sprechen viele Anzeichen dafür, daß die Zukunft in solcher Weise in uns eintritt, um sich in uns zu verwandeln, lange bevor sie geschieht. Und darum ist es so wichtig, einsam und aufmerksam zu sein, wenn man traurig ist: weil der scheinbar ereignislose und starre Augenblick, da unsere Zukunft uns betritt, dem Leben so viel näher steht als jener andere laute und zufällige Zeitpunkt, da sie uns, wie von außen her, geschieht. Je stiller, geduldiger und offener wir als Traurige sind, um so tiefer und um so unbeirrter geht das Neue in uns ein, um so besser erwerben wir es, um so mehr wird es unser Schicksal sein, und wir werden uns ihm, wenn es eines späteren Tages «geschieht» (das heißt: aus uns heraus zu den anderen tritt), im Innersten verwandt und nahe fühlen. Und das ist nötig. Es ist nötig und dahin wird nach und nach unsere Entwicklung gehen -, daß uns nichts Fremdes widerfahre, sondern nur das, was uns seit lange gehört. Man hat schon so viele Bewegungs-Begriffe umdenken müssen, man wird auch allmählich erkennen lernen, daß das, was wir Schicksal nennen, aus den Menschen heraustritt, nicht von außen her in sie hinein. Nur weil so viele ihre Schicksale, solange sie in ihnen lebten, nicht aufsaugten und in sich selbst verwandelten, erkannten sie nicht, was aus ihnen trat; es war ihnen so fremd, daß sie, in ihrem wirren Schrecken, meinten, es müsse gerade jetzt in sie eingegangen sein, denn sie beschworen, vorher nie Ähnliches in sich gefunden zu haben. Wie man sich lange über die Bewegung der Sonne getäuscht hat, so täuscht man sich immer noch über die Bewegung des Kommenden. Die Zukunft steht fest, wir aber bewegen uns im unendlichen Raume.


Wie sollten wir es nicht schwer haben? 
Und wenn wir wieder von der Einsamkeit reden, so wird immer klarer, daß das im Grunde nichts ist, was man wählen oder lassen kann. Wir sind einsam. Man kann sich darüber täuschen und tun, als wäre es nicht so. Das ist alles. Wievielbesser ist es aber, einzusehen, daß wir es sind, ja geradezu, davon auszugehen. Da wird es freilich geschehen, daß wir schwindeln; denn alle Punkte, worauf unser Auge zu ruhen pflegte, werden uns fortgenommen, es gibt nichts Nahes mehr, und alles Ferne ist unendlich fern. Wer aus seiner Stube, fast ohne Vorbereitung und Übergang, auf die Höhe eines großen Gebirges gestellt würde, müßte Ähnliches fühlen: eine Unsicherheit ohnegleichen, ein Preisgegebensein an Namenloses würde ihn fast vernichten. Er würde vermeinen zu fallen oder sich hinausgeschleudert glauben in den Raum oder in tausend Stücke auseinandergesprengt: welche ungeheure Lüge müßte sein Gehirn erfinden, um den Zustand seiner Sinne einzuholen und aufzuklären. So verändern sich für den, der einsam wird, alle Entfernungen, alle Maße; von diesen Veränderungen gehen viele plötzlich vor sich, und wie bei jenem Mann auf dem Berggipfel entstehen dann ungewöhnliche Einbildungen und seltsame Empfindungen, die über alles Erträgliche hinauszuwachsen scheinen. Aber es ist notwendig, daß wir auch das erleben.

Wir müssen unser Dasein so weit, als es irgend geht, annehmen; alles, auch das Unerhörte, muß darin möglich sein. Das ist im Grunde der einzige Mut, den man von uns verlangt: mutig zu sein zu dem Seltsamsten, Wunderlichsten und Unaufklärbarsten, das uns begegnen kann. Daß die Menschen in diesem Sinne feige waren, hat dem Leben unendlichen Schaden getan; die Erlebnisse, die man «Erscheinungen» nennt, die ganze sogenannte «Geisterwelt», der Tod, alle diese uns so anverwandten Dinge, sind durch die tägliche Abwehr aus dem Leben so sehr hinausgedrängt worden, daß die Sinne, mit denen wir sie fassen könnten, verkümmert sind. Von Gott gar nicht zu reden. Aber die Angst vor dem Unaufklärbaren hat nicht allein das Dasein des einzelnen ärmer gemacht, auch die Beziehungen von Mensch zu Mensch sind durch sie beschränkt, gleichsam aus dem Flußbett unendlicher Möglichkeiten herausgehoben worden auf eine brache Uferstelle, der nichts geschieht. Denn es ist nicht die Trägheit allein, welche macht, daß die menschlichen Verhältnisse sich so unsäglich eintönig und unerneut von Fall zu Fall wiederholen, es ist die Scheu vor irgendeinem neuen, nicht absehbaren Erlebnis, dem man sich nicht gewachsen glaubt.
 Aber nur wer auf alles gefaßt ist, wer nichts, auch das Rätselhafteste nicht, ausschließt, wird die Beziehung zu einem andren als etwas Lebendiges leben und wird selbst sein eigenes Dasein ausschöpfen. Denn wie wir dieses Dasein des einzelnen als einen größeren oder kleineren Raum denken, so zeigt sich, daß die meisten nur eine Ecke ihres Raumes kennen lernen, einen Fensterplatz, einen Streifen, auf dem sie auf und nieder gehen. So haben sie eine gewisse Sicherheit. Und doch ist jene gefahrvolle Unsicherheit so viel menschlicher, welche die Gefangenen in den Geschichten Poes drängt, die Formen ihrer fürchterlichen Kerker abzutasten und den unsäglichen Schrecken ihres Aufenthaltes nicht fremd zu sein. Wir aber sind nicht Gefangene. Nicht Fallen und Schlingen sind um uns aufgestellt, und es gibt nichts, was uns ängstigen oder quälen sollte. Wir sind ins Leben gesetzt, als in das Element, dem wir am meisten entsprechen, und wir sind überdies durch jahrtausendelange Anpassung diesem Leben so ähnlich geworden, daß wir, wenn wir stille halten, durch ein glückliches Mimikry von allem, was uns umgibt, kaum zu unterscheiden sind. Wir haben keinen Grund, gegen unsere Welt Mißtrauen zu haben, denn sie ist nicht gegen uns. Hat sie Schrecken, so sind es unsere Schrecken, hat sie Abgründe, so gehören diese Abgründe uns, sind Gefahren da, so müssen wir versuchen, sie zu lieben.
Und wenn wir nur unser Leben nach jenem Grundsatz einrichten, der uns rät, daß wir uns immer an das Schwere halten müssen, so wird das, welches uns jetzt noch als das Fremdeste erscheint, unser Vertrautestes und Treuestes werden. Wie sollten wir jener alten Mythen vergessen können, die am Anfange aller Völker stehen, der Mythen von den Drachen, die sich im äußersten Augenblick in Prinzessinnen verwandeln; vielleicht sind alle Drachen unseres Lebens Prinzessinnen, die nur darauf warten, uns einmal schön und mutig zu sehen. Vielleicht ist alles Schreckliche im tiefsten Grunde das Hilflose, das von uns Hilfe will.
 Da darf man nicht erschrecken, wenn eine Traurigkeit vor einem sich aufhebt, so groß, wie man noch keine gesehen hat; wenn eine Unruhe, wie Licht und Wolkenschatten, über Ihre Hände geht und über all unser Tun. Wir müssen denken, daß etwas an uns geschieht, daß das Leben uns nicht vergessen hat, daß es uns in der Hand hält; es wird uns nicht fallen lassen. Warum wollen wir irgendeine Schwermut von unserem Leben ausschließen, da wir doch nicht wissen, was diese Zustände an uns arbeiten? Warum wollen wir uns mit der Frage verfolgen, woher das alles kommen mag und wohin es will? Da wir   doch wissen daß wir in den Übergängen sind, und nichts so sehr wünschten, als uns zu verwandeln. 
(...)

Und wenn ich Ihnen noch eines sagen soll, so ist es dies: Glauben Sie nicht, daß der, welcher Sie zu trösten versucht, mühelos unter den einfachen und stillen Worten lebt, die Ihnen manchmal wohltun. Sein Leben hat viel Mühsal und Traurigkeit und bleibt weit hinter Ihnen zurück. Wäre es aber anders, so hätte er jene Worte nie finden können.

Ihr: 

Rainer Maria Rilke